Mittlerweile bin ich seit knapp vier Wochen wieder zurück in Südafrika. Die Zeit ist schnell verflogen, denn es gab viel nachzuholen und zu erledigen: Alle Tagesstätten und Suppenküchen mussten besucht werden, nach dem Rechten gesehen und Vorräte wieder aufgefüllt werden. Ich war im Großen und Ganzen zufrieden, wie es überall läuft. Sogar das Geld, das ich im Supermarkt für die Zeit meiner Abwesenheit hinterlassen hatte, war noch nicht ganz aufgebraucht gewesen. In den Tagesstätten wurde ich schon sehnsüchtig erwartet. Viele kleine Kinder sind dort neu hinzugekommen, die sechsjährigen mittlerweile in der Schule. So muss sich hier nun alles neu finden und einspielen.
Zum Glück habe ich derzeit jemanden, der mich tatkräftig unterstützt: meine Praktikantin Lena. Lena ist eine Studentin aus München, die mich für insgesamt vier Wochen hier vor Ort bei allem, was ich tue, begleitet. Sie kann sehr gut mit Kindern umgehen. Ihre Mutter betreibt in München ebenfalls einen Kindergarten und so vergleicht sie natürlich. Aber die Unterschiede zu einem Creche für Waisenkinder in Südafrika sind natürlich enorm, und so war sie anfangs ein wenig schockiert.
Doch am besten lasse ich sie einfach selbst zu Wort kommen und ihre Eindrücke schildern…
Lenas Bericht:
„Gerade sitze ich bei der Kirche und strecke mein Gesicht in die Sonne. Ich genieße es sehr wenn die Sonne scheint, denn entgegen meinen Erwartungen ist das Wetter hier auf oftmals zugezogen und regnerisch. Es ist sowieso vieles hier anders als ich es erwartet habe. Ich dachte ich komme in ein trockenes, rot-braunes und dürres Südafrika mit brütender Hitze und viel flachem Land. Und nun sitze ich hier. In der grünen und buntblühenden Idylle mit Wetter das einen fast an Deutschland erinnern mag. Überhaupt erinnert mich viel an Deutschland hier. Harburg, das kleine „Städtchen“ in dessen Nähe die Farm liegt auf welcher wir leben, hat größtenteils deutschstämmige Farmer. So ist der Gottesdienst auf Deutsch und manchmal möchte man meinen, man ist in einem kleinen deutschen Dörfchen. Wenn dort nicht die unendliche Weite und atemberaubende Umgebung wäre. Das Land der tausend Hügel. Aber diese eine Seite diese nennen wir es deutsche Seite ist eben auch nur eine Seite dieses vielseitigen Landes welches ich die letzten 12 Tage kennenlernen durfte. Es ist die Seite der Farmer, der großen und schönen Gärten, der Pools und der hohen Zäune. Die andere Seite, die ich dank Helga ebenfalls kennenlernen darf, ist die schwarze Seite. Die Seite des spröderen Landes, der offenen Dächer, der zerrissenen Klamotten und des Hungers. Auf dieser Seite trinken sie Regenwasser auf der anderen Seite Leitungswasser, das mit teuren Filtern gereinigt wurde – und das alles in einem Land. Diese schwarze Seite erinnert nun weniger an Deutschland. Sie ist geprägt von einstöckigen kleinen runden Häuschen, die nicht fertig gebaut wurden oder bereits wieder verkommen sind. Die Seite der Ziegen, Hühner und Kühe, die mitten unter den Menschen leben und vor uns auf dem Weg stehen. Keine Teerstraße und hingegen Müll, der die Straße ebnet.
Mich begeistert diese unendliche Lebensfreude
Von der weißen auf die schwarze Seite fahren Hega und ich jeden Tag bis zu 100 km, hier ist alles sehr weit auseinander. Neben dem Händewaschen ist vor dem Essen die einzige weitere Konstante das Beten. Mit unserem Auto voll von Öl, Reis, Kartoffeln, Maismehl Bohnen, Fisch und Äpfeln und Bananen machen wir uns immer wieder auf den Weg. Was mich am meisten begeistert an dieser Seite Afrikas, ist diese unendliche Lebensfreude. Obwohl die Bedingungen misslich scheinen, strahlen die Menschen dort pure Lebensfreude aus – egal was für einen Schicksalsschlag (und da gibt es reichliche) sie erlitten haben. Die Freude, die dort ein Täschchen voller Bananen auslösen kann, ist nicht in Worte zu fassen und unendlich begeisternd. Unter den Kindern von Helgas Kindergärten hat kaum ein Kind keine zerrissenen Klamotten an. Es gibt keine Barbie, keine Babyborn und auch sonst kaum Spielsachen. Die Kinder spielen mit Steinen, Blüten und Blättern. Einmal haben wir einen Luftballon mitgebracht. Die Freude strahlte förmlich aus den braunen Augen der Kinder. Als wir gingen war die größte Sorge, wir könnten diesen Luftballon wieder mitnehmen. Man denkt diese Kinder haben nichts, dabei haben sie unendlich viel. Unendlich viel Freude, Begeisterungsfähigkeit, Mut und Hoffnung.
Auch die Kindergärten von Helga erscheinen häufig recht leer und fad im Vergleich zu deutschen Kindergärten. In einem Creche befinden sich meist nur ein paar Plastikstühle und Tische. Und den Wänden hängen vereinzelt Tafeln mit Spuren vergangenen oder versuchten Unterrichts. Dort steht „One, two …“ der „ I love my mother, I love my sister“ Spielsachen gibt es wenige. Ein paar alte Laufräder, ein paar Bälle ohne Luft, Holzklötzchen und Puzzles, bei denen die Einzelteile fehlen… Nichts bleibt gut und neu…
Zum Mittagesessen gibt es Brei aus kleinen Plastiktellerchen mit Plastiklöffeln. Beim Essen geht es nicht darum, gesund zu sein, sondern sättigend. Auffallend ist jedoch, wie in jedem Creche auf Sauberkeit geachtet wird. Zwar eine andere Sauberkeit als diese, die wir in Deutschland kennen. Ordnung kann man so gut wie keine halten, wenn alles unübersichtlich in einem großen Karton ist, ist Ordnung…. So wird vor jedem Essen mit Regenwasser die Hände der Kinder gewaschen. Neben dem Händewaschen ist vor dem Essen die einzige weitere Konstante das Beten. Vor dem Essen wird gebetet und nach dem Essen wird gedankt.
Es sind viele Kinder dort in den Kindergärten. Auf eine Erzieherin kommen mehr als 20 Kinder. Dies führt oft dazu, dass kleine stille Kinder ein bisschen untergehen und für sich alleine in einer Ecke sitzen und in die Luft gucken. Ich frage mich was sie dann tun, träumen vielleicht. Aber von was?
Die Kinder erziehen sich selbst
Die Kinder dort beschäftigen sich also viel mit sich selbst. Der Fokus in den Kindergärten liegt nicht auf der Erziehung der Kinder. Die Kinder erziehen sich selbst. Und dies nicht einmal so schlecht. So ist mir unter den Kindern ein besonders großer Zusammenhalt und eine besonders große Loyalität aufgefallen. Die großen kümmern sich um die kleinen, niemand wird alleine zurückgelassen und wenn es etwas zu essen gibt, wird immer wert darauf gelegt, dass jeder etwas bekommt, auch die kleinen und schwächeren. Obwohl es wenig gibt, wird geteilt und das ohne dass man die Kinder darauf hinweisen muss. Die Aufgabe der Erzieherinnen liegt vor allem darin, für die Kinder zur Verfügung zu stehen, ihnen warmes Essen zu kochen. Es gibt kein pädagogisches Konzept, keine erzieherisch wertvollen Spiele und keine angeleitet Aufgaben. Manchmal singen oder tanzen sie gemeinsam. Die Kinder spielen ansonsten mit sich. Sie jagen Blütenpollen oder sitzen im Schatten und denken. Für die Erzieherinnen ist es gar nicht möglich, sich auf die individulle Entwicklung jedes Kindes einzustellen – und vielleicht auch gar nicht nötig. An erster Stelle steht die Versorgung mit Nahrung und oder Kleidung. Auch wenn die Kinder weinen, organisieren sie sich selbst. Die Erzieherin muss proaktiv von den Kindern in Anspruch genommen werden, dann ist sie da und hilft. Aber die Erzieherin geht nicht proaktiv auf eines der Kinder zu, überlegt sich nicht, was getan werden kann, um die Entwicklung zu fördern, das Wohlbefinden zu verbessern. Das ist sehr anders als in Deutschland. Es geht darum, den Kindern wenigstens eine warme Mahlzeit zu geben und Zeit zum Spielen – um mehr nicht. Das ist mein erster Eindruck in den Tagesstätten, nachdem auch Helga jetzt gerade für fast 3 Monate nicht dort war und jetzt wieder versucht so etwas wie ein Konzept in diese Ameisenhaufen einzuführen.
Eine Beobachtung, die mir außerdem sehr dominant war, bezieht sich auf diese zwei Seiten des einen Landes, dieses schwarz und dieses weiße. Die Kinder freuen sich über uns Weiße zumeist außerordentlich, weil es Essen verspricht. Bis auf ein kleines Baby, gerade mal ein Jahr alt. Als es mich und Helga erblickte, weinte es bitterlich und zitterte vor Angst. Vermutlich hatte es in seinem Leben zuvor noch keinen weißen Menschen gesehen. Die größeren Kinder freuen sich, weiße Haut, weiße Haare zu spüren. Sie sind interessiert diese andere, neue Seite einmal kennen zu lernen – sie sind noch so vorurteilsfrei und erfreuen sich an der Andersartigkeit.
Ich würde gerne fragen, wie es ihnen geht und was sie spielen möchten
Sehr schade ist für mich, dass ich die Sprache der Kinder nicht spreche. Sie verstehen ein bisschen Englisch und ja wir kommunizieren mit Händen, Füßen und Gedanken. Durch Ball spielen und Liebe schenken lässt sich auch eine gemeinsame Sprache schaffen. Dennoch gibt es mir oft ein blödes Gefühl, wenn diese kleinen Wesen mit ihren strahlenden Augen vor mir stehen, wild prappelnd und mich fragend angucken und ich lediglich fragend zurück gucken kann. Ich kann ihnen ihre Frage nicht beantworten. Ich kann ihnen keine Frage stellen. Nicht einmal nach ihrem Namen. Gerne würde ich sie fragen, wie es ihnen geht, ob sie das essen mögen, was sie gerne zu spielen hätten oder wo es ihnen weh tut. Stattdessen kann ich nur ihre strubbeligen Köpfe streicheln. Selbstverständlich können wir die Erzieherinnen bitten zu dolmetschen, aber das ist umständlich, zeitintensiv und selbstverständlich verfälscht. Dadurch erhalte ich eine gefilterte Sicht, nicht mehr die Sicht des Kindes selbst. Dabei sind wir oder vielmehr Helga ja gerade da um den Kindern zu helfen, um für die Kinder da zu sein und da scheint es mir wichtig, auch tatsächlich deren Bedürfnisse zu kennen. Nicht das, was die Erzieherinnen annehmen, was deren Bedürfnisse sind. Viele der Kinder sind sicherlich alt genug zu erzählen was ihnen gefällt, was nicht, was sie gern hätten und was nicht. Es könnte wesentlich individueller auf die Kinder eingegangen werden und vielmehr tatsächliche erzieherische Arbeit geleistet werden. Derzeit ist es vor allem eine Nahrungssicherstellung.
Da die Kinderstätten von Helga sehr weit auseinander liegen, fahren wir jeden Tag sehr viel und es bleibt wenig Zeit, um vor Ort bei den Kindern zu sein, Zeit mit ihnen zu verbringen und sie richtig kennen zu lernen. Meist sind wir nur dort, laden Essen ab, sprechen mit den Erzieherinnen über Neuigkeiten oder Bedürfnisse, helfen bei der Essensausgabe singen noch mit den Kindern und müssen dann bereits wieder los. Derzeit kenne ich kein Kind beim Namen. Das finde ich schade. So bleiben es kleine schwarze anonyme Ameisen, die wild um mich herumwuseln. Ich würde die Kinder allerdings gerne als kleine Menschen kennen lernen, als die Zukunft dieses wunderschönes Landes.
Diese kleinen Wesen sind noch formbar. Sie sind die Hoffnung und die Zukunft dieses Landes. Ich glaube, wenn man diesem Land helfen will, muss sich vor allem viel in den Köpfen und Geistern der Menschen ändern, der schwarzen und der weißen. Und dort sollte man bereits bei diesen kleinen Wesen in der Erziehung ansetzen. Man sollte sie verstehen lernen, ihnen eine Welt aufzeigen, die vielleicht anders ist als diese die sie derzeit erleben. An ihrer Freude anknüpfen. Von klein auf sollte das Interesse an der Andersartigkeit dieser weißen und schwarzen aufrecht erhalten werden. Es ist ein Land. Und es sind nicht weiße und schwarze, sondern es sind alle gemeinsam Südafrikaner die eben nur ein anderes Gewand tragen. Dieses Bild in den Köpfen der kleinen Kinder zu festigen, scheint mir wichtig.
Ich hoffe daher, in meinen nächsten drei Wochen noch mehr Zeit für die Kinder zu finden. Mehr Zeit diese Wesen kennen zu lernen, Ihre Bedürfnisse und Wünsche besser verstehen oder überhaupt erstmal kennen zu lernen. Und wenn es nur ist, dass sie sich wünschen, mehr mit Steinen zu spielen, mehr Reis anstatt Maismehl zu essen oder neben einem anderen Kameraden am Tisch zu sitzen. Ich möchte sie als Menschen mit Namen und Identität kennenlernen. Denn diese kleinen leuchtenden Augen sind wundervolle Lebewesen, von deren Lebensfreude sich einige Menschen, vor allem auch ich selbst, eine Menge abschneiden können.“
Lena Funk, Praktikantin und Psychologie-Studentin aus München, März 2015