„Wer nicht weiß, ob er morgen noch lebt, denkt nicht an Apfelbäume“ – Lenas Abschlussbericht

Hier ist Lenas Abschlussbericht nach vier Wochen, die sie mich in Südafrika begleitet hat:

„Nun sind schon wieder blitzschnell drei Wochen in Südafrika verflogen und die Reise zurück nach München steht kurz bevor. Wenn ich nun alles erzählen und berichten würde, was in den letzten Wochen passiert ist, könnte ich Stunden um Stunden und Seiten um Seiten füllen. Südafrika hat mir vor allem gezeigt, dass hier nichts so ist, wie man es plant und dass alles anders kommt, als man denkt. Wie hat eine Südafrikanerin selbst so schön gesagt: „South Africa is the perfect imperfection or the imperfect perfection.“ Dies beginnt bei eigentlich überflüssigen Wettervorsagen, geht über vorhandene, aber stellenweise ausfallende Handy- und Stromnetze (denn Kupfer ist ein gefragtes Gut) und endet bei nicht eingehaltenen Versprechen.

So kamen wir eines morgens zu einem der Kindergärten und niemand außer einem kleinen Jungen war anzutreffen. Nachdem wir uns gemeinsam mit diesem auf die Suche machten, fanden wir die Kinder in einem verrosteten Auto im Garten der Erzieherin spielen –. Die Erzieherin hatte „Flu“ ( Erkältung ). Oder der Kindergarten blieb fast leer, weil einer der Fahrer, der die Kinder in den Kindergarten bringt, am Tag zuvor einen Unfall hatte. An einem Tag holten wir ein Kind mit seiner Mama im Krankenhaus ab. Ohne Handy, ohne Wechselklamotten hatten diese beiden wegen eines gebrochenen Arms drei Tage im Krankenhaus verbracht, niemand, eingeschlossen der Familie, wusste wo sie steckten. Geld für eine Heimfahrt hatten sie auch keines. Helga wurde von zwei schwarzen Frauen aus der Umgebung um Hilfe gebeten.

Dies sind nur ein paar Beispiele, die zeigen: Kein Tag ist wie der andere. Jeden Tag gibt es eine neue Überraschung. Und nichts ist morgen so, wie du es heute geplant hast.

Aber was hat sich nun geändert in diesen letzten Wochen und was ist gleich geblieben?

Wer denkt schon an Apfelbäume für die Zukunft, wenn er nicht weiß, ob er morgen noch lebt?

Immer noch ist dieses eine Land schwarz und weiß und noch nicht grau. Also nicht dieses eine Südafrika, in dem Schwarze und Weiße zusammenleben. Menschen, die von ihrer Art teils nicht unterschiedlicher sein könnten. Da steht der hart arbeitende, strukturiert planende und gut verdienende Weiße dem lebensfrohen, nicht an die Zukunft denkenden und gemütlichen Südafrikaner gegenüber. Besonders bezeichnend für diese Gegenwartsorientierung der Schwarzen ist, dass es auf Zulu gar kein Wort für „Zukunft“ gibt. Es werden keine Obstbäume gepflanzt, um später deren Früchte zu ernten, sondern es werden Bäume gefällt um heute Feuerholz zur Essenszubereitung zu haben. Aber wie kann man es ihnen verdenken? Wer heute nicht weiß, ob er Morgen noch lebt, wer ein Leben in ständiger Angst vor dem Tod verbringt, wer soll da an Apfelbäume für die Zukunft denken?

Dieses wunderschöne und fruchtbare Land trägt eine Geschichte der Unterschiede

Anders geht es da den Weißen. Aber dieses Land der großen Unterschiede hat dadurch eine ungemeine Chance, einen tollen Reichtum und eine erstaunliche Vielfalt, welche nur ausgeschöpft und genutzt werden könnten. Wie gut könnten dem Weißen ein bisschen mehr Gegenwartsorientierung und Wertschätzung tun und dem Schwarzen ein bisschen mehr Organisation? Beide Seiten könnten ungemein profitieren. Wir, die wir hier als Ausländer dieses Land besuchen, haben jedoch nicht das Recht, diese Menschen und ihre Art des Zusammenlebens zu verurteilen. Noch dürfen wir diesem Land unsere, womöglich westlichen Lösungen aufdrängen oder sie gar für Gold halten. Denn wir wissen nicht, was tatsächlich besser ist. Wir sind nicht Teil dieses einen Landes, wir waren nicht Teil der Apartheid und wir werden es nicht sein. Wir haben unsere eigene Geschichte. Und so trägt dieses wunderschöne und fruchtbare Land eine Geschichte der Unterschiede, die aber deswegen noch lange keine schlechte sein muss.

Wunderbar ist, dass es Menschen wie Helga gibt. Menschen, die versuchen, kleine Brücken zwischen diese Unterschiede zu bauen – auch wenn es kleine sind. Menschen, die helfen, diese beiden Seiten näher zusammen zubringen und ihnen die Schönhiet ihrer Vielfalt aufzuzeigen. Menschen, die helfen, Unterschiede zu überbrücken und Glück zu stiften und Liebe zu schenken.

Namensschilder und Handabdrücke schaffen Identität

Was haben wir nun getan in den vergangenen Wochen? In meinem letzten Bericht habe ich erzählt, dass ich die Namen der Kindern lernen möchte, um sie als menschliche Lebewesen wertzuschätzen. Und damit haben wir begonnen. Mit Klebeband und Stift haben alle einschließlich der Erzieherinnen und Helga und mir ein kleines Namensschild erhalten. Für die Kinder war es die größte Freude, uns zu lauschen, wenn wir ihre Zulu-Namen sicherlich vollkommen falsch aussprachen. Eine noch viel größere Freude war es für die Kinder jedoch, als wir beim nächsten Mal einige bei ihrem Namen rufen konnten. Der Stolz stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Außerdem haben wir von jedem Kind inklusive Namensschild ein Foto gemacht und diese Fotos entwickeln lassen. Die Fotos wurden danach auf buntes Papier geklebt und mit den Kindern gemeinsam haben wir ihren Handabdruck neben ihr Bild gesetzt. Diese bunten Kunstwerke haben wir dann in den Kindergärten aufgehängt. Von allen Ecken tönte es „Mena, Mena, Mena“ was so viel heißt wie „ich“ oder „mein“. Diese kleinen Bildchen sind leicht gemacht und schaffen jedoch eine ungemeine Wertschätzung. Schaffen Identität und Persönlichkeit. Stolz haben die Kinder gemeinsam immer wieder ihre Bilder betrachtet. Außerdem schmücken sie die teils tristen Wände und riesigen Hallen der Kindergärten.

Die meisten Kinder aus Helgas Kindergärten kommen auf die Welt und müssen einfach mit ihren Eltern mitleben. Sie sollen wenig auffallen, wenig stören. Wenn sie sich verletzen, werden sie kaum getröstet. Mit ihnen gespielt wird kaum. Sie sind eben einfach da. Besonders aufgefallen ist mir im Vergleich zu den deutschen Kindern die Schmerztoleranz. Da werden blutige Lippen geschlagen und nach einem kurzen Schluchzer ist alles vergessen. Mit bluttropfender Lippe wird weiter Ball gespielt. Diese Kinder lernen wegzustecken. Außerdem lernen die Kinder alleine zu sein, selbstständig zu sein und sich nicht zu sehr an einer Bindungsperson zu orientieren.

Es ist wichtig, den Kindern zu zeigen, dass ihre Meinung zählt

Einmal ist Helga mit der Erziehern gemeinsam weggefahren um die abwesenden Kinder abzuholen. Die zurückgebliebenen zehn Kinder blieben mit mir alleine, einer fremden Frau, die nicht einmal ihrer Sprache mächtig war – aber sie haben keinen Pieps gemacht. Sie spielten unbesonnen weiter und ließen sich bei Problemen von mir trösten. Gerade deswegen ist es so wichtig, jedem Kind individuell Beachtung und Aufmerksamkeit zu schenken. Diesen kleinen Wesen zu zeigen, dass sie etwas besonderes sind. Dass sie es Wert sind, fotografiert und aufgehängt zu werden, dass ihre Meinung zählt und wichtig ist. Das sie sich selbst die Farbe aussuchen können, mit der sie ihren Handabdruck haben wollen, dass sie gefragt werden, was sie sich wünschen. Dadurch werden sie zu starken und eigenen Persönlichkeiten, die für ihre Wertvorstellungen eintreten.

Außerdem haben Helga und ich neues Spielzeug gekauft. Neben dem bunten Papier und den Fingermalfarben gab es Bälle, Hula-Hop-Reifen, Bobbycar-ähnliche Laufräder und vieles mehr. Wichtig ist, die Kinder nicht mit Spielsachen zu überschütten. Denn ihre tolle Gabe, sich mit sich selbst und den wenigen vorhandenen Sachen zu beschäftigen, sollte nicht unterbunden werden. Denn dieses fördert Kreativität, die man eigentlich mit Phantasie und Ideen bestärken sollte. Dafür muß man aber auch viel Zeit investieren. Bestimmte Spielsachen, wie beispielsweise ein Ball, sind allerdings gut, um Zusammenspiel, Kooperation und Koordination und die Bereitschaft zum Teilen oder Abgeben zu fördern. Außerdem muss man wissen, dass die Haltbarkeit eines Spielzeuges hier in Südafrika nicht mit der in Deutschland zu vergleichen ist. So ist sehr schnell die Luft aus dem Ball, der Puppe fehlt ein Arm und dem Laufrad der Lenker. Auf nichts wird wirklich Acht gegeben.

Für die Zukunft ist es wichtig, Regale, Kartons und ähnliches anzuschaffen um zumindest ein bisschen eine Ordnungsstruktur in die Kindergärten zu bringen. Außerdem wären eigene Fächer oder Haken für jedes Kind schön. Dadurch kann jedes Kind seine Sachen beisammen halten und hat gleichzeitig einen ganz eigenen Ort nur für sich persönlich. Ob das allerdings hier funktioniert, bezweifel ich sehr, denn auch die Erwachsenen haben keinen – brauchen keinen – persönlichen Raum. Ordnung ist, wenn alles in einem großen Karton verstaut ist oder auf einem Haufen liegt.

Zum Abschluss möchte ich „Danke“ sagen. Ich danke diesem Land, den vielen Menschen, die mir in meiner Zeit hier begegnet sind, den Kindern und vor allem Helga. Ich bin unendlich froh, dass ich diese Erfahrungen in diesem doch so andersartigen Land sammeln durfte. Ich konnte so viel Neues sehen und noch viel mehr Neues lernen. Ich danke Helga für all, was Sie mir hier ermöglicht und gezeigt hat. Für jedes große und kleine tierische Ungeheuer, dass sie in unserem Zuhause für mich besiegt hat, für die Zeit die sie investiert hat und für die vielen Begegnungen die sie mir ermöglicht hat. Ich hoffe sehr, alle bald wieder zu sehen und ich werde sie sehr vermissen.

SIYABONGA!

Lena Funk, Praktikantin und Psychologie-Studentin aus München, April 2015